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Meine Welt und Ich

Shahrzad, die Erzählerin von "Tausendundeine Nacht", erzählte jede Nacht dem grausamen König eine Geschichte, um die Frauen ihres Landes zu retten.  Die Schriftsteller des Shahrzadlandes schreiben, um die Tyrannei der Politik, der Regierung und der Kultur zu bekämpfen. Shahrzad erzählte jede Nacht eine neue Geschichte, damit der Tyrann sie am Leben lassen sollte. Die Schriftsteller meines Landes  riskieren ihr Leben für ihre Geschichten. Sie werden verfolgt, verhaftet, gefoltert und ermordet. Was ist mit dem Schrifttum in Shahrzadland geschehen? Die uralten Scharzadgeschichten werden heutzutage nicht einmal geduldet.

Hafez dichtete im vierzehnten Jahrhundert über den Wein und die Liebe. Was hätte Goethe über die heutige Dichtung im Iran geschrieben, wo der Wein und die Liebe verboten sind?

Ich schaue von der Ferne aus und verfolge die Nachrichten. Nicht die Nachrichten, die man in meinem Gastland hört. Haben sie in den Nachrichten gehört, dass die islamische Regierung allein im Jahr 1988 Tausende politische Gefangene innerhalb von ein Paar Tagen hingerichtet und die Leichen in Massen begraben hat? Die Bilder des Krieges hat man noch in der Erinnerung, auch die Bilder der ermordeten kurdischen Kinder durch die deutschen chemischen Waffen. Die iranischen und irakischen Tyrannen haben einen achtjährigen Krieg geführt, vor allem aber gegen die eigenen oppositionellen politischen Gruppen. Allein im Sommer 81 wurden Tausende in verschiedenen Städten des Irans verhaftet, gefoltert und hingerichtet oder man hat auf der Straße auf die Demonstranten geschossen. Ist das das Gottesland, das die religiösen Anführer verhießen? Sie haben von der Gerechtigkeit und Freiheit gesprochen. Sie versprachen uns eine bessere Welt aufzubauen. Das Land Gottes. Was ist mit Gottes Land geschehen?

Das Land des Zarathustra hat Nietzsches Wort nicht wahrgenommen. Gott war schon längst tot und meine Landsleute wollten das Land Gottes aufbauen. Die religiösen Anführer haben einen Gottes Staat errichtet und diesmal endgültig den Gott am Horizont aufgehängt, damit alle sehen können, dass nicht nur der Gott geschlachtet ist, sondern schon der Henker regiert. in den Gerichtsälen werden die altislamischen patriarchalischen Gesetze ausgeführt. Die Frauen haben keine Rechte, sie haben sogar kein Recht sich von ihren Männern zu trennen. Wenn es ihnen doch gelungen wird, müssen sie auf ihre Kinder verzichten. Es ist wie ein Alptraum. Es ist aber kein Alptraum, der endlich zu Ende geht. Es ist leider die Wahrheit. Was ist mit meiner Heimat geschehen?

Ich denke, schlimmer kann es nicht kommen. Dann sehe ich die Taliban in Afghanistan vor meinen Augen, die schon bis zum Jahr 98 von den USA unterstützt wurden. Nur nachdem sie sich ungehorsam gegen die USA verhalten haben, haben wir von der Verletzung der Menschenrechte in Afghanistan durch die Taliban erfahren. Was ist mit meiner Welt geschehen?  Ich darf nicht zurück. Ich kann meine Heimat nicht wiedersehen. Vor sechzehn Jahren bin ich als Flüchtling hierher gekommen und bin die ganze Zeit als Flüchtling bezeichnet worden. Seit sechzehn Jahren lebe ich als eine Fremde in Deutschland. Ich habe auf dem Boden dieses Landes zwei Kinder geboren. Ich esse die Äpfel dieses Landes, trinke sein Bier und bewege mich auf seinem Boden. Ich studiere deutsche Literatur. Aber ich habe noch  immer meinen Asylbewerberpass in der Tasche. Was ist mit meinem Gastland geschehen?

Noshin Shahrokhi, 2002