Grube, Grab, Gruft
Es war ein Hochzeitsfest. Es gab die Freude und
Heiterkeit. Jemand spielte ein Instrument, ein anderer sang, eine Gruppe
tanzte. Das laute Lachen und die Musik beherrschten die Stadt. Die Braut
hockte sich ohne den Bräutigam an den Hochzeitstisch. Die Tränen wuschen
ihr Augenantimon, flossen über die Wangen auf das Weiße ihres Kleides.
Die Tränen wollten nicht enden und auch nicht das Schwarze um ihre
Augen. Der Guss der Tränen quoll durch Hochzeitskleid und über den
Hochzeitstisch und machte die tödliche Stimmung des Hauses schwerer und
dunkler. Das Wetter war so heiß, als ob vom Himmel das Feuer regnete.
Meine Mutter nahm den weißen Brautschleier und legte ihn auf das
Leichentuch. Nein, es war kein Hochzeitsfest, sondern eine Beerdigung.
Eine zitternde Hand spielte Kamantsche, die andere sang brennend mit der
Wut, eine Gruppe weinte. Wehklagen und Kamantsche herrschten über die
Stadt.
Ich ging durch das Souvenir der Toten, die geprägten
Namen auf den grauen Steinen. Der Wind schlug den trockenen
Friedhofssand auf mein Gesicht, den Sand, der nach dem Tod und fernen
Reminiszenzen roch und machte das Klima des Friedhofs schwerer und seine
Stimmung blutiger.
Ringsherum habe ich geschaut, ich begriff, dass ich
in meiner Stadt war, nur statt der Gebäude waren die Gräber darauf
gebaut. Danach sah ich die Trauernden, die mich zu sich riefen. Ich
hatte Angst und wollte mich nicht denen anschließen, aber gegen meinen
Willen löste ich mich von ihnen. Ein schwarzes Leichentuch wurde
schleppend aus dem Friedhof gezogen. Der Mullah, der die Hochzeitsverse
lesen sollte, hatte den Saum des Leichentuchs beiseite gelegt. Darin
schliefen die Körperteile im Bräutigamskleid ein.
Ich weiß, wenn ich ihm meinen Traum erzählte, gäbe es
keinen Unterschied, hätte er mit hämischem Grinsen gesagt „Du bist schon
abergläubisch geworden!“
Ich habe aber ewig ein schweres Schuldgefühl. Hätte
ich etwas gesagt, hätte er es vielleicht im Verborgenen ernst genommen
und würde vorsichtiger.
Die Tage vergingen schwer. Keine Nachricht gab es von
ihm. Wir haben die ganze Stadt, von der Leichenhalle bis zu den
Krankenhäusern, abgesucht. Es gab keine Spur von ihm. Auch wussten wir,
dass es nichts zu suchen gibt. Als er nicht kam, war es klar, dass er
verhaftet wurde. Wir haben auch in den Gefängnissen nachgefragt. Da
sagte man uns, es wäre niemand mit diesem Namen da. Es vergingen Monate
und Mutter wurde Tag für Tag älter und gebrechlicher. Sie hatte keine
Lust etwas zu tun. Das Haus zerfiel im Staub und in der
Hoffnungslosigkeit. Sie saß in einer Ecke, umarmte ihre Knie und versank
in sich selbst.
Als der Vater starb, war ich klein, aber ich erinnere
mich immer noch an die Tränen auf ihren jungen Wangen. Nun sah ich keine
Tränen mehr, als ob ihre Augen in zwei schwarze Gruben gefallen waren
und wie Sterne in der Tiefe blinzelten. Mutter wurde bucklig und mager.
Ihre Wangenknochen rangen heraus und ihre Haut sehr umpellte.
Keiner besuchte uns als wären alle im Hochzeitsfest
wegen der Abwesenheit des Bräutigams geschmollten. Auch die Braut sahen
wir nicht mehr, nur hörten wir nach ein paar Monate, dass sie wieder
heiraten würde. Dieses Mal war der Bräutigam anwesend und ihre Hochzeit
endete mit Freude und Glück. Der Mutter erzählte ich das nicht. Sie
fragte nicht mehr nach ihr und ich dachte, dass sie es nicht aushalten
könne, so etwas zu hören.
Seit Langem haben wir ihn nicht mehr gesucht aber
doch gehofft, er sei am Leben. Bis dahin, als ich einen von Siamacks
Freunden zufällig an der Bushaltstelle getroffen habe. Er zog mich zur
Seite und kündete mir sein Beileid. Meinem Herz tat das weh und meine
Knie wurden schwach. Ich konnte nicht glauben, was ich gerade hörte. Er
hielt meinen Arm fest, damit ich nicht auf den Boden fallen sollte. Es
war ihm erst klar, dass ich nichts davon wusste, dass er in den ersten
Tagen der Verhaftung unter der Folter gestorben war und nicht auf dem
Friedhof, sondern in einer Gruft in den Ruinen schlief. Nein, ich konnte
es nicht glauben. Ich glaubte es nicht. Woher wusste er das überhaupt?
Wieso benachrichtigten die andere Gefangene und wir als Familie wussten
nichts davon? Hart zog ich meinen Arm von ihrer Hand und sagte: „Er ist
nicht tot. Er ist noch am Leben. Vielleicht hielt er sich irgendwo
versteckt oder hatte diese Stadt verlassen. Ich glaubte nicht, dass er
tot wäre.“
Unterwegs bin ich nur gelaufen. Ich sollte es nicht
der Mutter sagen. Was wäre, wenn sie hörte, was mit ihrem Sohn
passierte? Könnte sie es überhaupt ertragen? Nein, sie sollte es nicht
mitbekommen. Sie hatte nur mich und Siamack, die zwei Kinder, die sie
allein mit ihrem Herzblut erzogen hatte. Die Familie und Bekannten
schmähten hinter ihr, woher sie das Geld für die Erziehung ihrer Kinder
bekomme. Wir wussten aber, dass sie bei den Nachbarn die Wäsche wusch,
einkaufen ging und damit hat sie auch Geld und Nahrung bekommen. Die
Fantasie der Familien war sehr ausgeprägt. Alles sah für sie verdächtig
aus und wurde einfach ausgesprochen. Ich war sicher, dass Mutter nie
daran gedacht hatte, ihren Körper zu verkaufen.
Ich keuchte. Endlich kam ich zu mir und begriff, dass
ich die lange Strecke zwischen der Arbeit und dem Haus gelaufen bin. Es
wurde langsam dunkel, als ich mich verwirrt vor der Haustür fand. Ich
sollte es der Mutter sagen, aber wie? Ich konnte nicht, wollte nicht,
hatte keine Kraft dafür. Wie konnte sie diese Katastrophe verkraften?
Mit lautem Herzklopfen ging ich ins Zimmer hinein. Mutter stand vor der
Tür und hielt den Brautschleier in der Hand. Als sie mich gesehen hatte,
hatte sie laut gelacht. Sie konnte das Lachen nicht unterbrechen. Ich
rief sie und drückte sie hart. Ich war doch ihr Kind, wie konnte ich sie
ohrfeigen? Es gab keine andere Wahl. Sie lachte nicht mehr. Aus ihren
Augengruben heraus sah sie mich an. Wie eine nackte dürre Wüste, die
sich in Erwartung des Regens spaltete, sagte sie: „Haust du mich,
Siamack? Warum? Ich möchte zu deiner Hochzeit kommen. Siehst du den
Brautschleier? Sag ihr nicht, dass ich ihn dir gebe, damit ihr Mann
nicht zornig wird. Die Rosenblumen von dem Tüll sind gut für dich, für
deine Wunde. Sie heilen dich. Erinnerst du dich daran, dass die Kinder
in der Schule deine Nase gebrochen und zu dir Hurensohn gesagt hatten?
Ja, mein Schatz. Wenn man sieht, dass seine Kinder Hunger haben, wird
man doch zur Hure. Mit Wäsche waschen konnte ich nicht die Miete für
diesen engen Raum zahlen,... Wo ist Siamack. Es ist schon dunkel und er
ist noch nicht gekommen. Sag ihm, er soll mich nicht so lange warten
lassen... Siamack begriff es. Er hat die Schule verlassen. Ich ließ
aber nicht und schickte ihn zur Abendschule. Der Arme hat als Kind für
die Kunden seiner Mutter gearbeitet. Er arbeitete viel, aber weil er ein
Kind war, verdiente er wenig. Die Familie konnte nur hinter meinem
Rücken verleumden. Jedes Jahr legten sie in eure Hände fünf Tuman und
forderten sie tausend Male meine Dankbarkeit.
Sie redete zwei drei
Stunden hintereinander. Ihre Zunge war wie eine Kassette. Ihre
schluchzende Stimme hörte nicht für einen Moment auf. Ich wusste, dass
sie auf die Hilfe angewiesen ist. Ich hatte aber keine Kraft mehr. Meine
Knie wurden schwach und ich blieb in mich gekehrt. Plötzlich schwieg
sie, machte die Tür auf und ging heraus. Ich habe sie mehrere Male
angerufen, aber keine Antwort bekommen. Ich zitterte vor Furcht und
Schwäche. Ich folgte ihr willenlos. Meine Fußsohlen bekamen Blasen.
Stundenlang ging ich hinkend hinter ihr her. Es war ganz dunkel. Sie
ging mit einem Selbstvertrauen durch die Dunkelheit, das einmalig war.
Dagegen beobachtete ich vor der Angst meine Umgebung und zitterte bei
jedem Geräusch. Endlich erreichten wir fern von der Stadt eine dürre
Fläche, die ich nie gesehen hatte. Sie roch nach Friedhof. Nach ein Paar
Schritten setzte sich Mutter auf die Erde. Sie roch nach vorne, rechts
und links, danach krabbelte sie und beschnüffelte die Erde. Bedeutete
das, dass meine Mutter wahnsinnig wurde? Ich weinte laut und konnte die
Geschehnisse an dem Tag nicht glauben. Ich wünschte mir es, wäre es nur
ein Alptraum. Wenn die Alpträume sich verwirklichen, dann ist der Wunsch
unnötig. Endlich setzte sie sich hin. Das Blut floss von ihren Knien.
Danach fang sie an zu graben. Sie drückte ihre Nägel in die Erde und
grub mit leeren Händen. Ich half ihr. Es war nicht nötig viel zu graben.
Nach einem halben Meter schüttete sie ein Teil von Siamacks
Bräutigamskleid gewand. Mir war schwindlig. Ich ging zur Seite und
übergab mich. Mein Körper schmerzte furchtbar. Ich konnte nicht in die
Gruft schauen. Ich sah nichts. Mutter legte den Brautschleier in die
Gruft und warf wieder Erde darauf. Wann nahm sie den Blumentopf mit? Sie
pflanzte die Wurzeln der weißen Rose in die weiche Erde und legte sich
mit trockenen Augen daneben. Aus der Ferne hörten wir eine
Kamantschestimme. Jemand summte weinend ein Liebesgedicht. Ohne zweifeln
hatte er seine Liebste verloren.
Es wurde langsam hell. Durch meine Tränen hindurch
habe ich mich umgeschaut. Ich hatte das Gefühl, das ich in meiner Stadt
war, nur statt der Häuser, waren kleine und große Grüften darauf gebaut.
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Kamantsche
kleines Streichinstrument |