Das
Monument des Aghabozorgs
Der Bus hielt im
Zentrum des Dorfes an. Wir stiegen aus und gingen durch enge Gassen
zwischen den Gärten. Ich lief mit meinen kleinen Füßen, um nicht hinter
meinem Vater zurückzubleiben. Wir erreichten das Haus der Großmutter. Es
war alt. Im Hof des Hauses, wie in vielen anderen Häusern des Dorfes,
fließt auch das Wasser eines kleinen Baches. Die kleinen Bäche quirlten
wie die Äste einer großen Quelle. Vielleicht hatten deswegen die
Einheimischen das Dorf »der Urquell« genannt. Das kleine Gärtchen des
Hauses war voller farbiger Blumen und Obstbäume. Verwundert betrachtete
ich den Granatapfelbaum, der die Hälfte des Säulenganges bedeckte. Ein
sehr großer grüner Baum, an seinem Ast hing nur ein großer
purpurfarbener Granatapfel. Wir traten durch den hohen Säulengang in das
Zimmer ein. Aghabozorg hatte unter der Decke geschlafen. Ich setzte mich
neben ihn. Sein Gesicht war runzelig. Er war alt und ich liebte ihn
sehr.
Aghabozorg« fragte
ich ihn, als ich seine silbernen Haare streichelte. »Warum trägt dieser
Baum nur einen Granatapfel? Der ist bestimmt alt geworden, nicht?»
Er legte seine Hand auf meine Schulter, um zur Toilette zu gehen. Stolz
auf meine Hilfe war ich froh, dass ich für ihn etwas tun konnte.
»Meine Tochter« sagte
er, als wir den Baum hinter uns hatten. »In dieser Zeit und Ära leiden
die Bäume auch an der Schwindsucht. « Ich wartete neben der Toilettentür
bis er wieder seine Hand auf meine Schulter legte. Mein Vater war im
Wiesental, um die Gurken zu ernten und Adjan war entweder in der Küche
oder in der Rumpelkammer, um den Dunst des Spiegels der vergangenen
Jahren wegzuwischen.
Ich hatte ihn nie so
nett gesehen. Meistens erzählte er mir Märchen oder fragte mich nach
meinen Spielen und Wünschen. Er war wie ein Kind geworden und im
Gegensatz zu Adjan schlief er viel. Als Aghabozorg schlief, ging ich zur
Rumpelkammer. Es war mysteriös und vom Naphthalingeruch erfüllt. Adjan
öffnete die große schwarze Truhe und holte die prächtig antiken Stoffe
heraus. Nach dem sie die Naphthalins umgestellt hatte, legte sie die
tausendfarbigen Stoffe behutsam wieder hinein.
»Die ist der aller
schönste« schrie ich, als sie den schwarzlila glitzernden Stoff in der
Hand hatte »Adjan, Adjan, woher hast du diesen Stoff? «
Umgeben von ihren
tiefschwarzen Augenringen verschleierte sich ihr Blick mit Tränen. »Sie
hatte auch diesen Stoff am liebsten« sagte sie, »Ich hatte diesen als
Hochzeitsgeschenk von meiner Schwiegermutter und sollte ihn dann
weiter... « Keine Stimme war mehr zu hören und ich habe den Namen des
Djahans von ihrem Lippenbewegungen erahnt.
»Und es sollte das
Hochzeitsgeschenk für die Tante werden? « habe ich ahnungslos gefragt.
Sie hatte ihre Augen mit ihren runzeligen Händen bedeckt, damit ich die
rollenden Tränen nicht sehen konnte. Dann starrte sie verwundert in
meine Augen. Als hätte sie das Mysterium der schwarzen Jahrhunderte, das
ich von der Tante, oder besser gesagt, von Adjan geerbt hatte, in der
Tiefe meiner Augen gesehen. Sie legte sorgfältig den Stoff zusammen und
legte ihn auf meinen Schoß. Ich war glücklich, aber auch traurig. Ich
hätte gern nach der Tante gefragt, aber die schwere Stimmung der
Rumpelkammer und ihr trauriger Blick hatten meinen Mund verschlossen.
Als ich die Rumpelkammer verlassen wollte, sagte sie seufzend »Gott
mache dich alt. « Ich betrachtete ihre Hände, ihr runzliges Gesicht und
ihren gekrümmten Rücken und wünschte mir nie alt zu werden.
Überall im Haus
fühlte ich, dass der Granatapfelbaum mit tausenden Augenblättern auf
mich blickte, als würde er durch seine Augenbewegungen mit mir sprechen.
Ich war neugierig aber fürchtete mich auch. Am letzten Tag war Adjan zu
den Nachbarn gegangen, um Brot zu backen und Aghabozorg schlummerte. Ich
atmete tief durch und näherte mich dem Baum. Als ich in seinem Schatten
stand, befand ich mich in einer Traumwelt, die bis zu dem Tag nicht in
meinen Träumen existierte. Es blies ein belebender Zephir und ich konnte
die Blätter flüstern hören. Mich durchlief ein Schauder aber die Schwere
seines Schattens war so groß, dass ich nicht reagieren konnte. Ich lag
auf dem Teppich unter dem Baum, machte die Augen zu und überfiel mich
fremden Träumen.
Djahan kletterte auf
den Walnussbaum und rüttelte die Äste. Die Gartenerde war von Walnüssen
bedeckt. Als sie diese in die Säcke füllte, wurden ihre Finger durch die
Berührung mit den Walnussschalen schwarz. Sie blickte zu den
purpurfarbenen Granatäpfeln, die von den gebeugten Ästen hinab hingen.
Sie konnte es nicht über das Herz bringen, diese zu pflücken. Sie setzte
sich mit dem Rücken an den Granatapfelbaum. Sie war traurig. Alle
warteten auf ihre Reife, um ihre Hochzeit zu sehen. Sie hasste es
erwachsen zu werden. Seit ihrer Kindheit zog sie ein unerklärliches
Gefühl dem Granatapfelbaum hin. Sie vergötterte den Baum und erinnerte
sich daran, dass Adjan ihr einmal gesagt hatte, dass, als sie sie im
Mutterleib hatte, der Baum zum ersten Mal Früchte trug. Im Sommer, als
sie unter seinen Ästen und Blättern schlief und durch die Blätter in
Sternenhimmel starrte, gingen ihre Fantasien und das grüne Dach langsam
ineinander über und vereinigten ihre Träumen mit dem Himmel und den
Sternen. Wenn sie den Baum in den Arm nahm, klopfte ihr Herz schneller,
wurde ihr Körper heiß und ein schönes Gefühl durchströmte sie.
Seit ein paar Tagen
hatte sie eine eigenartige Stimmung, ein unangenehmes Gefühl. Sie konnte
nicht verstehen, wieso sie auf einmal, in sich gekehrt, nervös und
traurig war. Sie hatte eine schlimme Vorahnung. Irgendwie wusste sie
schon, dass diese Gefühle mit Ihrem Schicksal verknüpft waren. Das
Schicksal, das sie von ihrer Kindheit, dem Haus und Ihrem Baum trennte.
Am nächsten Tag, als
Adjan die sich erstaunlich beugenden Äste des Granatapfelbaumes
erblickte, ließ sie Djahan bis zur Frühstückszeit schlafen, damit sie
nach dem Schlaf mit mehr Heiterkeit die Granatäpfel pflücken, und in die
kleine Strohkörbe legen konnte. Das Wasser in Samowar sprudelte, als
Adjan an ihr Bett ging. Djahan krümmte sich vor Schmerz und ihr Bett war
in purpurfarben. Das viele Blut löste bei Adjan Panik aus. Voll Angst
und Sorge schickte sie Aghabozorg, um den Dorfarzt zu holen. Als der
Dorfarzt kam, waren alle Granatäpfel auf den Boden gefallen und
geplatzt. Die Erde war von Granatapfelkernen bedeckt. Das Mädchen
krümmte sich nicht mehr. Sie starrte ruhig auf das grüne Dach und die
Granatapfelkerne vermischten sich mit ihrem Blut.
Als ich aufwachte,
war mein Körper nass. Die Granatapfelblätter waren auch nass. Adjan war
mit einem Beutel Brot zurückgekommen und hatte für mich ein Schirmalbrot
gebacken. Die Hälfte des Säulenganges war mit dem geernteten Obst meines
Vaters zugestellt. Ein paar Joghurtflaschen waren auch da. Ich wusste
nicht wie er so viel Gepäck nach Teheran schaffen wollte. Er ging, um
einen Wagen zu suchen. Adjan legte das Schirmalbrot mit dem schönen
Stoff in einen Beutel und gab ihn mir in die Hand. Sie pflückte den
einzigen Granatapfel und legte ihn in meine andere Hand.
»Alle Kerne von
diesem Granatapfel sind paradiesisch« sagte sie. Ich wusste, dass ich
diesen Granatapfel nicht essen konnte.
»Bringst du mich zum
Grab der Tante? « fragte ich mit flehendem Ausdruck. Sie schaute mich
erstaunt an und sagte » Der Friedhof ist nicht für Kinder ... in
Ordnung, gehen wir, bevor dein Vater zurückkommt. « Ich habe den
Granatapfel mitgenommen und wir gingen zum Friedhof, durch Obstgärten
und Luzernfeld. Als wir den Hügel hinter uns hatten, erreichten wir
einen steinigen Garten. Sie zeigte mir das Grab und wir setzten uns
daneben.
Tränenreich summte
sie ein Gebet »Djahan, gut das du gestorben bist! Wenn du weißt, was für
eine Hölle die Welt geworden ist, gut das du gestorben ...« sagte sie,
als sie die Tränen mit ihrem Tschador abwischte. Dann verließ sie ihre
Djahan.
Wir machten uns
schnell auf den Weg, um vor dem Vater zu Hause zu sein. Wir waren noch
nicht auf dem Hügel »Was hast du mit dem Granatapfel gemacht? « fragte
Adjan, »Auf das Grab gelegt. « sagte ich. Wir guckten erschrocken hinter
uns. Der Granatapfel war geplatzt und seine Kerne hatten das Grab
bedeckt.
Als wir zu Hause
waren, hatte der Vater das viele Gepäck in den Wagen gestellt. Die Gasse
war zu eng, um den Wagen durch zu lassen. Ich nahm meinen Beutel und
ging, um Aghabozorgsgesicht zu küssen. Er legte mir seinen Rosenkranz um
meinen Hals und legte wieder seinen Kopf auf das Kissen.
Seit diesem Tag habe
ich nie wieder Adjan und Aghabozorg gesehen und die einzigen lebendigen
Erinnerungen, die mir geblieben sind, sind der glitzernde Stoff und der
Rosenkranz, den mein Vater von mir weggenommen und in eine kleine
schwarze Truhe gelegt hat. Jetzt, wenn ich nach vielen Jahren an meine
Kindheit, an Aghabozorg und den Rosenkranz denke, weiß ich, warum mein
Vater den Rosenkranz von Aghabozorg, wie seine Erinnerungskette, in
einer kleinen schwarzen Truhe geschützt hat.
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Adjan
Oma
Aghabozorg Opa
Schirmalbrot
Ein Art Brot, dass es mit Milch und Zucker gebacken wird
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